Um die Geschichte einer der außergewöhnlichsten Büchersammlungen zu verstehen, die als eine der «einheitlichsten Sammlungen des italienischen Humanismus» gilt und im Wesentlichen bis zum heutigen Tag fast vollständig erhalten geblieben ist, ist es notwendig die Jahre der Ausbildung von Guarnerio d’Artegna und die wesentlichen Etappen seiner Karriere nachzuvollziehen. Guarnerio d’Artegna wurde um 1410 in Portogruaro oder Zoppola geboren und stammte aus einer Familie, die in der Vergangenheit von den Patriarchen von Aquileia das Schloss von Artegna als Lehen erhalten hatte. Nachfolgend werden nur die wichtigsten Etappen erwähnt: die in der ‚Patria del Friuli’ besuchten Schulen, der Aufenthalt in Rom als Angehöriger des Kardinals Antonio Pancera, damals bereits Patriarch von Aquileia (1427/28.1431), der wenn auch nur kurze Besuch der Sitzungen des Konzils von Ferrara-Florenz (1438-1439), die Freundschaft mit einigen friaulischen Mitgliedern des Päpstlichen Hofes (Bartolomeo Baldana und Giacomo di Giacomo da Udine), das Kanonikat von Aquileia und Udine, die Ernennung zum Patriarchalvikar vonseiten des Patriarchs Ludovico Trevisan (1445-1454), seine Tätigkeit als Pfarrer von San Daniele del Friuli und die engen Beziehungen zu den im Friaul tätigen Lehrern. In den Jahren des Vikariats von Guarnerio wurde der Buchschmuck der Sammlung zunehmend luxuriöser. Giordana Mariani Canova stellte fest, dass nur wenige Handschriften einen ‚modernen’, durch spätgotische Elemente ausgezeichneten Buchschmuck aufweisen. Die Mehrzahl der Handschriften von Guarnerio zeichnen sich durch einem ‚altmodischen’, am Geschmack des Humanismus und seiner Vorliebe für klassische Handschriften inspirierten Buchschmuck aus: Weißranken (bianchi girari) im florentinischen Stil oder die originelleren Dekorationen mit Knotenmotiv. Guarnerio 8 ist in gewisser Weise das Urexemplar dieses Knotenmotivs, das als Imitation der im paduanischen und venezianischen Umfeld bekannten spätmittelalterlichen Bänderdekorationen gilt; es besteht demnach die Möglichkeit, dass, gemäß der seinerzeit üblichen Praxis die Handschriften bei Schreibstuben in Auftrag gegeben wurden, in denen renommierte Illuminatoren tätig waren und dass der Buchschmuck zum Teil in Padua oder in Venedig angefertigt wurde. Die Handschriften von Guarnerio gehören zu den ersten mit dieser Art von Buchschmuck, der sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in verschiedenen Zentren Norditaliens verbreitete. Aus diesem Grund besteht «kein Zweifel daran, dass die Handschriften Guarnerios die Grundlage für die Entwicklung einer der gebildetsten und raffiniertesten humanistischen Buchschuckarten bildeten».