Unter den wundervollen Handschriften der von Guarnerio d’Artegna zusammengetragenen Bibliothek nimmt die sogenannte „byzantinische“ Bibel notwendigerweise einen herausragenden Platz ein. Der Kürze halber wird sie Bibel genannt, auch wenn diese Handschrift in Wirklichkeit nur der (zweite) verbliebene Band einer zweibändigen Bibliotheca war: Sie überliefert das Ende des Alten Testaments und den gesamten Komplex der Bücher des Neuen Testaments. Ein paar Zahlen reichen, um den Grund des objektiven Werts dieses großformatigen Buches zu klären. Auf den 257 Blättern befinden sich 21 große bebilderte bzw. ausgemalte Initialen, 1144 kleinere verzierte Initialen und 175 mit Miniaturen verzierte Seitenköpfe. Diese Zahlen sind umso vielsagender, wenn man bedenkt, dass 86 mit Miniaturen verzierte Initialen entfernt und andere so stark verstümmelt oder beschädigt wurden, dass sie nicht mehr lesbar sind. Die lange Geschichte der Handschrift beginnt zum Zeitpunkt ihres Erwerbs durch Guarnerio d’Artegna. Dieser erstand dieses wahrhafte mit Miniaturen verzierte monumentale Buch von den Erben des Patriarchen von Aquileia Antonio Pancera (1402-1412). Und davor? Die Zeit vor jenem Kauf gibt Anlass zu zahlreichen entgegengesetzten Annahmen, die versuchten, die Herkunft der Handschrift zu klären. Alle Experten sind sich in einem Punkt einig: Der (oder die) Buchmaler und Zeichner, die an der Gestaltung der Illustrationen des Bandes mitwirkten, teilen eine „orientalische“ Ausdrucksform, weshalb die Bibel als „byzantinisch“ definiert wird. Drei unterschiedliche Thesen wurden von den Wissenschaftlern in dem Versuch aufgestellt, den Entstehungsort dieser Handschrift ausfindig zu machen: Es wurde von einer sizilianischen Schule gesprochen, die lateinische Eigenheiten und byzantinische Besonderheiten bis aufs Höchste miteinander verband; eine zweite These schlug das Skriptorium des Heiligen Grabs, das 1125 vom englischen Prior Wilhelm, Bischof von Tyrus, gegründet wurde, welcher später nach der Übergabe Jerusalems im Jahr 1187 sein Amt in Akkon antrat. Einen ganz anderen Standpunkt hingegen vertritt Valentino Pace, der davon überzeugt ist, dass die „byzantinische“ Bibel aus einem süditalienischen, sicherlich jedoch nicht sizilianischen Skriptorium stammt; für Pace ist der Ursprung in Apulien und Kalabrien wahrscheinlicher.