Nachdem Lovato Lovati (1240-1309) Anfang des 14. Jahrhunderts in der Abtei von Pomposa die älteste Handschrift mit den Tragödien von Seneca wiederentdeckt hatte, wurden diese sicherlich auch dank der Mediation der Vorhumanisten Paduas der Generation Lovatis oder der darauf folgenden Generation, noch jahrzehntelang gelesen, geschätzt und studiert. Es gibt erhebliche Anhaltspunkte für die Zirkulation dieses Werks im Friaul zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert. Diese Handschrift wird heute in der Bodleianischen Bibliothek in Oxford aufbewahrt und ist, wie im Kolophon zu lesen ist, auf das Jahr 1399 datiert: «Expliciunt Tragedie complete millesimo trecentesimo nonagesimo nono, die octava augusti hora XVa, in scolis reverendissimi artis gramatice doctoris et rhetorice eximii professoris magistri Gentilis de Ravenna» (f. 288r).
Es fehlen sowohl der Name des Kopisten, als auch eine ausdrückliche Angabe des Ortes an dem die Kopie angefertigt wurde, aber dies ist relativ leicht ableitbar: Meister Gentile Belloli aus Ravenna war von 1397 bis zu seinem Tod im Jahr 1404 «artis grammatice professor»/«grammatice et rhetorice professor eximius» an den Schulen von Cividale tätig. Die Qualifikation „eximius“, die auch in anderen Quellen angegeben wird, beweist, dass seine Lehrtätigkeit offenbar sehr geschätzt wurde; und offensichtlich basierte sie auch auf der Lektüre der Tragödien von Seneca, wobei diese Handschrift ein typisches Beispiel eines Studienexemplars ist. Sie gehörte zur gut bestückten Handschriftenbibliothek des venezianischen Gelehrten und Priesters Matteo Luigi Canonici (1727-1805), die 1817 zum großen Teil von der Bodleianischen Bibliothek von Oxford erworben wurde.