Der Text des Graduale von Aquileia besteht aus folgenden Hauptabschnitten: Merkverse in Gesangsform mit einigen Grundregeln der musikalischen Grammatik (fol.1rv); Graduale für
Temporale und
Proprium de Sanctis; Toten-Offizium;
Commune Sanctorum (fol.2r); Tropenrepertoire (fol. 149r) [Inhalt ist identisch mit dem Vaticano Ross. 76]; Kyriale (fol. 150v); Sequenzrepertoire für
Temporale und
Proprium de Sanctis (fol. 155r). Zum Schluss (fol. 190v) Sequenz für die Messe der Heiligen
Hermagoras und Fortunatus Plebs fidelis Hermachorae. Das Graduale ist sowohl aus hagiologischen Gründen (Präsenz lokaler Heiliger), als auch aufgrund der Auswahl der Texte gemäß den lokalen Bräuchen (Serie der sonntäglichen Allelujas) der liturgisch-musikalischen Tradition Aquileias zuzuordnen. Abgesehen von den traditionellen liturgischen Gesängen enthält die Handschrift zwei auf den ersten Blick in Erstaunen versetzende Melodien: Es handelt sich um zwei poetische (versus), mit Prozessionsgesängen (conductus) vergleichbare Kompositionen, die für gesellige Kontexte gedacht sind:
AD MENSAM DICITUR O crucifer bone lucis sator (f. 86v) und
VERSUS POST CIBUM Pastis visceribus ciboque sumpto. Die in Lieder umgeschriebenen Texte stammen aus dem
Liber Cathemerinon von Prudentius (IV.-V. Jh.), bzw. III, 1-40). Das Refektorium des Klosters und der Speisesaal des Bischofs waren Orte, an denen der Körper genährt wurde ohne dabei den Geist zu vernachlässigen. Es ist bemerkenswert, dass beide Gesänge eine Entsprechung in französischer Sprache haben: Ein Hinweis, der die Hypothese von einem transalpinen westlichen, wenn auch indirekten Einfluss auf das friaulisch-aquileische Repertorium stützt.